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Das Mandala

 

„Wenn mich nicht alles täuscht, müsstest du doch längst im Bett liegen?“ Ellies Mama schaut in das Kinderzimmer ihrer Tochter und denkt, dass sie eigentlich verärgert sein müsste. Schließlich ist es schon nach zehn und da sitzt ihre elfjährige Tochter ungewaschen und immer noch in Jeans und Pullover vor dem Computer. Anscheinend hat sie beim Internetsurfen mal wieder die Zeit vergessen. Außerdem sieht das Zimmer aus wie eine Müllhalde: Wäsche von einer Woche, angebrochene Süßigkeiten, leere Verpackungen, Spielzeug, Bücher… ‚Egal,’ denkt sich die Frau, ‚am Tag vor Heiligabend da schaue ich mal drüber weg.’

„Mami, morgen ist doch Weihnachten und ich kann sowieso nicht schlafen.“ murmelt Ellie ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.

Frau Eulenstein bahnt sich einen Weg durch das Chaos auf dem Boden, beugt sich über Ellie und flüstert in ihr Ohr: „Dann werden wir die Geschenke morgen Abend wohl ohne dich aufmachen müssen.“

„Mama, wieso das denn?“ Ellie verdreht genervt die Augen.

„Weil der Weihnachtsmann keine faulen Kinder mag, die nicht mal ihr Zimmer aufräumen, von Hilfe im Haushalt will ich gar nicht erst anfangen.“

Ellie verzieht das Gesicht und meint abfällig: „Die Geschichte mit dem Weihnachtsmann ist ja wohl abgehakt, krass, dass du damit noch kommst. Schon gemerkt, ich bin kein Baby mehr?“

„Ich weiß, aber vielleicht schläfst du morgen vor lauter Müdigkeit unterm Weihnachtsbaum ein, wenn du nicht sofort ins Bett gehst?“

„Das glaubst du doch wohl selber nicht, nicht mal ein Baby würde da einschlafen können.“

„Vielleicht nicht, aber jetzt schalte die Kiste aus und ab ins Bad.“ Ohne auf das Nörgeln ihrer Tochter zu reagieren geht sie aus dem Zimmer. Sie spürt irgendeinen Gegenstand unter ihren Füssen und bevor sie es verhindern kann, knackst das Ding ziemlich laut unter der Sohle ihres rechten Hausschuhs.

„Oh nein, jetzt hast du mein Geschenk für dich kaputt gemacht.“ Ellie springt auf und funkelt ihre Mutter böse an.

„Warum lässt du das auch auf dem Boden liegen? Wie oft soll ich dir noch sagen…“ Es hat keinen Zweck, Ellie hört sowieso nicht zu, wenn es um die Ordnung in ihrem Zimmer geht. Resignierend zuckt die Mutter mit den Schultern.

„Was soll ich dir denn jetzt schenken?“ fängt Ellie jetzt an zu jammern. „Weißt du, wie lange ich dazu gebraucht habe? Stunden!!!“

„Vielleicht schenkst du mir einfach ein aufgeräumtes Kinderzimmer, das wäre ja mal was.“ Aber dann tut ihr das Kind doch leid und sie fragt: „Was war’s denn?“

„Kuck doch selber nach!“ meint Ellie und setzt sich wieder an den Computer.

Vorsichtig schiebt die Mutter das alte Löschpapier zur Seite, und darunter kommt eine runde Glasscheibe mit einem bunten Mandala zum Vorschein. Leider ist sie in drei Teile zersprungen. Frau Eulenstein schiebt die Scherben wieder zusammen und betrachtet das kleine Fensterbild. „Oh, das ist aber schön, bemerkt sie anerkennend.“

„Du meinst wohl: war schön.“ belehrt sie ihre Tochter.

„Es sind nur drei Teile und keine kleinen Splitter.“ versucht die Mutter sie zu trösten. „Vielleicht kannst du es kleben, ich habe doch diesen ziemlich guten Kontaktkleber, der liegt unten im Kühlschrank. Was meinst du?“

„Mal sehn, ich kann’s ja mal versuchen.“ nuschelt Ellie, denn sie war schon wieder in irgendeine Internetseite vertieft. „Ansonsten kriegst du eben nichts, bist doch selbst schuld.“

Ellies Mama überhört den letzten Satz ganz einfach und sagt: „Das Bild ist jedenfalls sehr schön, ich mag Mandalas. Du solltest es wirklich reparieren, aber nicht mehr heute. Geh jetzt ins Bad und das ein bisschen flott!“ fordert Frau Eulenstein und verlässt das Zimmer, lässt aber die Tür offen. Erfahrungsgemäß braucht Elli noch ein paar Ermahnungen, bis sie es endlich schafft, im Bett zu liegen.

 

Eine Stunde später sind die Lichter ausgeschaltet und im Hause Eulenstein ist alles ruhig. Ilona und Mark, Ellies Eltern schlafen schon, nur Ellie selbst wälzt sich noch von einer Seite auf die andere.

‚Wusste ich doch, dass ich nicht einschlafen kann!’ denkt sie trotzig. ‚Wenn’s nach mir ginge, könnte ich die ganze Nacht fernsehen oder am Computer spielen, mit Sicherheit würde ich nicht unterm Weihnachtsbaum einschlafen.’ Dann geht sie noch mal ihren Wunschzettel durch, der sich wie jedes Jahr über zwei Seiten erstreckt. ‚Bestimmt kriege ich nicht alles.’ überlegt sie. Aber das neue Computerspiel soll auf jeden fall dabei sein, und die Barbie mit dem Handy, und der tragbare CD-Player mit den beiden neuen Musik – CDs, ach und unbedingt das total geniale Brettspiel aus der Werbung, wie heißt das doch gleich…?

Was ist das? Hat sie da eben irgendein Geräusch an der Balkontür gehört? Rasch zieht sich Ellie die Bettdecke über den Kopf. Ihr Herz klopft wie wild vor lauter Angst. Seit sie eines Nachts, als ihre Eltern ohne sie auf einer Party waren, unerlaubt einen Krimi für Erwachsene geschaut hatte, bekommt sie beim kleinsten Geräusch Angst vor einem Einbrecher. Deshalb schiebt sie auch Abend für Abend ihren Schreibtischstuhl und diverses andere Gerümpel vom Boden vor die Tür zum Balkon. Hatte sie das heute etwa vergessen? Ellie kann sich nicht erinnern. ‚Kein Laut mehr zu hören.’ stellt sie fest und lugt vorsichtig unter der Decke hervor. Oh nein, der Stuhl steht am Schreibtisch. ‚Was jetzt?’ fragt sie sich ängstlich. Auf keinen Fall kann sie jetzt noch aufstehen und den Stuhl verrücken, wo doch da draußen ein Einbrecher oder sogar ein Mörder steht.

‚Das ist doch Blödsinn, Ellie, warum sollte dich einer umbringen wollen?’ ermahnt sich das Kind. Wie oft hatten das ihre Eltern schon gefragt. Sie weiß es ja selbst nicht. Außerdem würde ihr ein Einbrecher schon reichen, die haben auch schon Leute gekillt.

Ellie denkt sich einen Plan aus: ‚Also gut, ich warte zehn Minuten, wenn er dann nicht rein gekommen ist, so ist er sicher auch gar nicht da, oder hat es sich anders überlegt. Dann kann ich ganz schnell aufstehen und die Tür verrammeln.’

‚Ein guter Plan!’ lobt sie sich selbst und behält die Digitalanzeige ihres Videorekorders im Auge. 23.37 Uhr, sie gähnt verhalten.

‚Mann, ich bin ja doch endlich müde!’ denkt Ellie. ‚Das beste wäre, ich schlafe einfach ein.’

Sie schließt die Augen und denkt über den eingebildeten Einbrecher nach. ‚Was macht der da draußen eigentlich so lange?’ Hat der kein zuhause, es muss ihm doch arsch-… nein, das soll ich ja nicht sagen, also eiskalt sein. Der Ärmste friert sich noch den Ar- nein den Popo ab!’ denkt sie und muss trotz der angespannten Lage kichern. 23.38….Ellie wird es zu warm unter dem dicken Plümo. Ganz leise schiebt sie die Decke bis runter bis zum Bauch, ohne dabei die Ziffern der Uhr aus den Augen zu verlieren. Allerdings fällt es ihr jetzt doch ganz schön schwer, die Lider offen zu halten. Ellie gähnt herzhaft und erschrickt über ihr eigenes lautes Geräusch. Hat er das gehört? Sie schaut zur Balkontür, alles unverändert. Erleichtert schließt das Mädchen die Augen, öffnet aber schnell noch das linke Lid einen kleinen Spalt und sieht die grüne 23.39. Okay, noch sieben Minuten zuckt es ihr durch den Kopf, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fällt.

 

23.53 Uhr. ‚Bin ich etwa eingeschlafen? Soll ich den Stuhl jetzt vor die Tür schieben oder penne ich einfach weiter?’ fragt sich Ellie schläfrig. Doch ein neuer Gedanke jagt ihr blankes Entsetzen ein: ‚Was, wenn ich verpasst habe, wie der Einbrecher eingestiegen ist?’ Sie schaut zur Balkontür und meint, dass sie verschlossen aussieht, vielleicht aber auch nur angelehnt ist.

‚Wie kommt eigentlich so ein Typ durch eine Tür rein, die nur von innen aufgeht?’ Grübelt sie vor sich hin.

‚Egal, ich muss feststellen, ob er drin ist oder nicht und dann sehn wir weiter.’ Sie muss also aufstehen und nachschauen, ob die Tür nur angelehnt oder offen ist. ‚Kein Problem!’ beschließt sie mutig und will sich schon entschlossen aus dem Bett erheben. Doch dann kommen ihr Zweifel: ‚Wenn er ein ordentlicher Mensch ist, hat er die Tür wieder zugemacht, oder? Sind Einbrecher ordentliche Menschen? Der im Film sah eigentlich ganz anständig aus, hat aber dann doch die Frau erschossen. Aber hat er die Tür wieder zugemacht?’ Dem Kind wird klar, was es da für eine bescheuerte Frage gestellt hat und wenn es jetzt nicht solch eine Angst hätte, würde es sich sicher vor Lachen nicht mehr einkriegen können.

‚Erkenne den ernst der Lage!’ ermahnt Ellie sich selbst. ‚Was machst du nun? Entscheide dich!’ Sie zieht kurz in Erwägung, ihre Eltern zu wecken. Die beiden schlafen ja glücklicherweise direkt neben ihrem Zimmer. ‚Keine Chance!’ denkt sie. ‚Die lachen mich eh nur aus, und außerdem steht der Einbrecher vielleicht gerade vor meiner Zimmertür und will auf demselben Weg wieder verschwinden. Mit der Beute versteht sich.’

Ellie fragt sich nun, ob sich ein Einbruch bei ihnen im Haus eigentlich lohnen würde. Soweit sie weiß, besitzt ihre Mutter kein Silberbesteck. Sonst würde sie es sicher ständig putzten, wie die tote Frau in dem blöden Film. Genutzt hat’s ja gar nichts, nicht mal dem Einbrecher. Schließlich ist er doch erwischt worden und musste alles wieder abgeben.

‚Was gibt’s bei uns zu holen?’ überlegt das Kind. ‚Der große Fernseher wäre ja wohl zu schwer für einen einzigen Mann. Ob es gleich zwei sind? Schön blöd von den beiden, nicht unten durch die Haustür einzubrechen, wie wollen die das Ding wieder vom Balkon schaffen?’ Ellie hat keine Ahnung und hat jetzt außerdem ganz andere Sorgen. Ihr fällt ein, dass ihr eigenes Zimmer vielleicht schon ausgeräumt worden sein könnte. Ärgerlich überlegt sie: ‚Haben die sich bei mir schon was unter den Nagel gerissen?’ Den Fernseher und den Videorekorder hat sie schon gesehen. Ellie schaut sich in ihrem Zimmer um. Computer? Noch da. ‚Okay, wenn die Papas Kiste sehen, lassen die meinen sowieso stehen.’ DVD-Player? – noch da, Gettobluster – auch noch da. Ihre Musik–CDs? wie soll sie das wissen, die liegen überall im Zimmer verstreut, die DVDs auch. Da hätten die ganz schön was zu tun, wenn sie’s darauf abgesehen hätten. ‚Bei der Gelegenheit könnten die auch gleich mein Zimmer aufräumen, Mama würde sich freuen.’ Ellie stellt sich gerade die beiden Einbrecher beim Zimmeraufräumen vor, als ihr plötzlich etwas ganz anderes auffällt.

‚Moment mal, warum ist es eigentlich so hell im Zimmer?’ wundert sich Ellie. Und tatsächlich, irgendwie scheint ein Licht durch ihr Fenster. Silbern wie Mondlicht wirkt es nicht, eher golden wie von tausend Kerzen oder von Feuer. ‚Sind die bescheuert, feiern auf meinem Balkon `ne Party? Nachts um…’ Das Mädchen stockt und fragt sich: ‚Wie späht ist es eigentlich?’ Sie schaut noch mal zum Videorecorder. Vor Schreck setzt sie sich senkrecht im Bett auf und erstarrt zur Salzsäule. ‚12.00 Uhr, Mitternacht, Geisterstunde….!’ schießt es ihr durch den Kopf.

Bis jetzt war alles nur Spaß. An die Einbrecher oder sogar an den Mörder hatte sie sowieso nicht ernsthaft geglaubt. Aber bei Geistern hört der Spaß doch auf. Gespenster kommen durch jede Tür, verschlossen oder nicht, mit Klinke innen oder außen. Genau genommen interessieren die sich kaum für Türen. Soweit Ellie weiß, gehen Gespenster durch Wände. ‚Ich glaube doch schon lange nicht mehr an Gespenster!’ erinnert sich Ellie. ‚Ich bin doch kein Baby mehr! Die gibt’s doch genauso wenig wie den Weihnachtsmann oder den Osterhasen!’ So versucht sich das Kind Mut zuzusprechen: ‚Es gibt keine Geister, keine Drachen oder andere Ungeheuer, keine Zwerge, Wichte oder sonstige kleinwüchsigen Kerle.’ Langsam und ganz leise erhebt sie sich, steigt aus dem Bett und zählt unentwegt weitere beängstigende Kreaturen auf, die es ebenfalls nicht gibt: ‚Keine Vampire, keine Hexen, keine Zauberer und keine lebenden Toten.’

Sie nähert sich dem Fenster. Der Vorhang ist nur teilweise zugezogen, da sie Angst hat, in völliger Dunkelheit zu schlafen. Jetzt wäre es ihr schon lieber, sie hätte die Dinger doch ganz vors Fenster gezogen, dann bekäme sie von dem unheimlichten Licht gar nichts mit und müsste sich nur um Einbrecher Sorgen machen. Außerdem könnte sie auch nicht gesehen werden von dem Ding, welches sich dort draußen rum treibt, was immer es auch sein wird.

Ellie duckt sich unter die Fensterbank. ‚Es gibt keine Feen, Elfen oder Elben und leider auch keine Engel!’ setzt sie ihre Litanei fort und späht ganz vorsichtig über die Kante.

‚Keine Engel? Was sitz dann da auf meinem Balkon, ganz in Weiß mit Heiligenschein und großen weißen Flügeln?’ Das Mädchen kann es nicht fassen, geschockt, aber auch ein bisschen erleichtert lässt sie sich auf den Fußboden fallen. Von allen unheimlichen Wesen erscheint ihr ein Engel noch am ungefährlichsten. Doch damit ist die Sache noch nicht erledigt. Sie kann doch nicht hier unten auf dem Boden kauern, während draußen sich ein Engel den Ar- nein den Popo abfriert. ‚Und überhaupt, wer soll das glauben, ich träume wohl? Los schau noch mal nach!’ fordert sie sich selbst auf. Diesmal etwas mutiger, steht Ellie auf und schaut ganz ungeschützt aus dem Fenster. Tatsächlich, sie hat sich nicht verkuckt. Da sitz ein Engel, in der hinteren Ecke ihres Balkons, und der leuchtende Schimmer kommt eindeutig von ihm.

‚Was macht der da?’ fragt sie sich und schiebt das Gesicht näher an die Scheibe heran. Die Schultern der zusammengekauerten Gestalt zucken. ‚Weint der etwa? Kann doch nicht sein, warum sollte ausgerechnet ein Engel weinen?’ Auf jeden Fall kann er Ellie nicht sehen, weil er sein Gesicht in den Händen vergraben hat. Und für einen Engel sieht die Person sehr, sehr traurig aus.

Soll ich raus gehen und ihn trösten? Das Mädchen hat schon immer viel Mitleid mit traurigen Menschen gehabt, aber ein Engel sollte doch nicht traurig sein, mit all der Herrlichkeit im Himmel. Deshalb zweifelt sie schon ein bisschen, ob sie wirklich einen weinenden Engel auf dem Balkon sitzen hat.

‚Der weint nicht, oder doch?’ murmelt Ellie vor sich hin. ‚Ich gehe jetzt raus und schaue nach!’ Entschlossen geht das Kind zur Balkontür und öffnet sie ganz sachte, um das leuchtende Wesen nicht zu vertreiben. ‚Ich würde mir in den Hintern beißen, wenn der jetzt wegfliegt, nach all der Angst, die ich ausgestanden habe. Wer kriegt schon die Chance, einem waschechten Engel zu begegnen?’

‚Wie spreche ich ihn bloß an? Mit Hallo oder Hi? Eher nicht, etwas förmlicher: Guten Abend wäre wohl besser.’ beschließt Ellie und schaut vorsichtig um die Ecke.

„Hallo?“ flüstert sie kaum hörbar. ‚Blöd, ich wollte doch guten Abend Herr Engel sagen!’ ärgert sich das Kind. Aber der Engel hat anscheinend gar nichts gehört. Seine Schultern zucken immer noch und das Mädchen vernimmt einen herzerreizenden Seufzer.

Jetzt könnte das Kind vor lauter Mitleid gleich mit weinen. ‚Ach der Arme, was hat er nur?’ fragt sich Ellie voller Mitleid. Liebeskummer kann es ja wohl nicht sein, schlechte Zensuren sicher auch nicht und eine Mutter, die mit ihm schimpft wird er wohl auch nicht haben. Ob er was ausgefressen hat und nun Angst vorm Lieben Gott hat?

Zaghaft nähert sich das Mädchen dem fremden Wesen, ihre nackten Füße verursachen ein leises Klatschgeräusch auf den kalten Fliesen. Doch sie spürt die Kälte gar nicht, denn der Engel hat sie bemerkt und hebt seinen Kopf. Er schaut das Kind an und das Leuchten wird stärker. Ellie spürt plötzlich eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. So wohl hat sie sich noch nie gefühlt.

Während sie das feststellt, überlegt sie gleichzeitig, dass sie dieses Gefühl wohl niemandem erklären könnte, so unbeschreiblich warm und wohlig ist ihr ums Herz. Irgendwie fühlt sie sich geborgen und alle Angst, Nervosität und Aufregung sind von ihr abgefallen.

„Guten Abend Herr Engel, du bist doch ein Engel, oder?“ Ellie setzt sich langsam neben die leuchtende Gestalt, sie möchte diese auf keinen Fall erschrecken.

„Klar bin ich ein Engel, kennst du sonst noch jemanden, der Flügel hat, außer Vögel und Drachen natürlich?“

Das Kind ist ein bisschen irritiert. ‚Der spricht ja wie ich!’ denkt sie und fragt weiter: „Was machst du dann hier auf meinem Balkon, wenn du ein Engel bist?“

Der Engel nuschelt mit beschämter Stimme: „Hab mich verflogen.“

Ellie glaubt sich verhört zu haben. „Wie bitte? Ich hör nur verflogen.“

„Mach dich bloß lustig, ich kann den Maifelder Weg nicht finden. Aber ich werd mir schon irgendwie zu helfen wissen. Geh du nur zurück in dein warmes Bett und träum von deinen tollen Weihnachtsgeschenken. Ob die anderen Kinder auch was kriegen, ist dir doch egal!“ Der Engel rückt ein bisschen von dem Kind ab und drückt sich noch tiefer in die Ecke hinein.

Ellie fühlt sich beleidigt: „Das ist mir nicht egal und überhaupt, ich kann sowieso nicht schlafen, wegen deines Leuchtens, von träumen ganz zu schweigen!“

„Oh das tut mir leid, entschuldige!“ sagt der Engel hastig. „Ich bin schon weg.“ Er schnieft noch einmal in seinen weiten Ärmel und macht Anstalten sich zu erheben.

„Warte mal, so war das doch nicht gemeint!“ erwidert Ellie schnell und hält ihn an seinem Gewand fest. „Bleib ruhig sitzen und erzähl mir was los ist! Vor allem, wie heißt du eigentlich, also ich heiße…“

„Ellie, ich weiß!“ fällt ihr der Engel ins Wort. „Du bist eins der vielen Kinder in Europa, denen wir keine Geschenke bringen müssen. Ich heiße Manuel. Kannst Manu zu mir sagen.“

„Was soll das denn heißen?“ Das Mädchen ist entrüstet. „Bedeutet das, ihr bringt zwar Geschenke, aber nicht zu allen Kindern und überhaupt, wer seid ihr denn? Sag bloß nicht, Gehilfen vom Weihnachtsmann. Das glaub ich nämlich nicht.“

„Kannst du halten wie du willst, zu dir kommen wir wie gesagt sowieso nicht. Ist ja auch gar nicht nötig, deine Eltern werden dich schon mit Geschenken überhäufen, obwohl ich das beim besten Willen nicht verstehen kann.“

Ellie traut ihren Ohren kaum, bedeutet das, den Weihnachtsmann gibt’s doch, bloß zu ihr kommt er nicht? Ihre Wut verfliegt und Ellie merkt, dass sie traurig aber auch ganz schön neugierig wird. Sie möchte das Ganze schon verstehen.

„Bitte Lieber Engel, erzähl mir alles von Anfang an. Ich werd dir auch bestimmt helfen können. Meine Eltern haben einen Stadtplan, wenn der Maifelder Weg in meiner Stadt ist, finden wir ihn. Mach dir keine Sorgen!“

„Du kannst Manu sagen.“ wiederholte der Engel. Sein Gesicht sah schon nicht mehr so verzweifelt aus und die Tränen waren auch schon getrocknet.

„Also gut Manu, leg los mit deiner Geschichte!“

„Ich bin noch nicht lange in der Gehilfentruppe des Weihnachtmannes.“ fing Manuel an zu erzählen. „Aber ich habe mich schon ganz lange darauf beworben. Man hat als Engel sonst nicht viel Gelegenheit, auf die Erde zu kommen und ehrlich gesagt ist es im Himmel manchmal, wirklich nur manchmal und auch wirklich nur ein bisschen….“ Er zögerte. „Langweilig eben.“

„Mach dir keine Gedanken!“ unterbricht ihn Ellie. „Ich erzähle das auf keinen Fall dem lieben Gott. Mit meinen Eltern ist mir auch manchmal langweilig, sogar ziemlich langweilig. Was ist nun passiert?“

„Also, genau gesagt, ist das hier meine erste Tour, und ich habe auch alle Adressen abgehakt, nur die letzte kann ich einfach nicht finden. Wahrscheinlich haben irgendwelche dummen Typen die Straßenschilder abmontiert. Aber das ist noch nicht das Schlimmste…!“ Schon fängt er wieder an zu schluchzen und kann gar nicht mehr weiter sprechen.

Ellie streichelt ihm sanft über den Rücken und versucht ihn zu beruhigen: „Was kann denn schon so schlimm sein, dass ein Engel weint? So was gibt’s doch gar nicht!“

„Hast du `ne Ahnung!“ seufzt Manuel. „Irgendwo habe ich das letzte Geschenk verloren, ich befürchte über dem Fluss. Weiß der Him…nee, keiner weiß, wie weit das abgetrieben sein kann.“

„Oh!“ meint das Kind, „das ist wirklich schlimm.“ und denkt nach. „Hm äh, ich weiß ja nicht, was das andere Kind kriegen sollte, aber ich hätte da vielleicht….“

„Ja?“ Fragt der Engel voller Hoffnung.

„Ist es denn ein Mädchen?“ erkundigt sich Ellie und überlegt, was sie wohl am leichtesten entbehren könnte. Bei einem Jungen wäre die Sache jedenfalls aussichtslos.

„Ja, ein Mädchen, es kommt aus Afrika und wohnt jetzt mit ihren Eltern und noch drei Geschwistern in einer so genannten Notunterkunft.“ klärt sie Manuel auf. „Sie heißt Ngetha und ist elf Jahre alt, so wie du.“

„Ach was, das passt ja!“ Ellie springt auf und glaubt, dass sie ganz bestimmt etwas Passendes finden wird. „Und den Stadtplan bringe ich auch gleich mit!“   versichert sie dem Engel.

Schon in der Tür angelangt, dreht sie sich noch mal um. „Du kommst wohl besser mit rein,“ fordert sie Manuel auf, „bevor du dir deinen Engelspopo verkühlst!“

Als hätte er nur darauf gewartet, springt Manuel auf und folgt seiner Retterin in ihr Zimmer. „Ich wollte schon lange mal in eins eurer Zimmer schauen.“ sagt er neugierig. „Doch das war bis jetzt unmöglich, schließlich steht ihr unordentlichen Kinder nicht auf unserer Weihnachtsliste.“ Bevor Ellie etwas erwidern kann, stößt der Engel einen erstauntes OH aus und kratzt sich nachdenklich am rechten Flügel.

„Was soll das OH?“ fragt die Zimmerbesitzerin leicht verstimmt. „Gefällt es dir bei mir nicht? Kannst ja draußen warten, wenn’s dir hier drin nicht passt.“

„Nein, nein. So war das nicht gemeint.“ versichert ihr der himmlische Besucher. „Ich war nur nicht vorbereitet auf solch ein Chaos. Hast du viele Sachen!“

Ellie ist nun doch etwas beschämt und versucht von sich ein bisschen abzulenken: „Bist wohl neidisch oder was?“

„Ich bin ein Engel, die sind nicht neidisch!“ entrüstet sich Manu.

Doch Ellie ist bestimmt nicht auf den Kopf gefallen, und Diskutieren war schon immer ihre Stärke. „Soweit ich weiß, weinen Engel auch nicht. Vielleicht bist du nur so eine Art Vor- oder Hilfsengel?“

Manuel will sich nicht mit seiner Gastgeberin streiten, schließlich hat sie ihm ja ihre Hilfe angeboten. Deshalb versucht er einzulenken, und übergeht die Beleidigung mit dem Hilfsengel. „Glaub mir, ich bin nicht neidisch und dein Zimmer gefällt mir auch.“

„Aber irgendetwas passt dir doch nicht, schieß los, ich kann mir schon denken, was es ist.“

„Also weißt du, ich war diese Nacht in so vielen Wohnungen. Die Kinder, die wir aufsuchen, leben meist in ganz engen Räumen, zu dritt, vielleicht sogar zu viert. Da ist es eng und alles ist voll gestellt. Und da dachte ich eben…“ Hilflos zuckt Manu mit den Schultern.

Ellie schaut ihn an und fragt: „Ja was dachtest du denn?“

„Na ja ihr Kinder in den Häusern oder in großen Wohnungen, ihr habt euer eigenes Zimmer. Da müsst ihr ja ne Menge Platz haben, stellte ich mir vor.“ Der Engel schaut sich um.

„Und dann komme ich hier rein…“

„Und siehst, dass ich auch alles voll gestellt habe!“ vollendet das Kind noch beschämter den Gedanken Manuels.

„Ja aber nicht mit Matratzen, Koffern, Kleidern, Töpfen oder Tüten und Essenszeug,“ antwortet dieser schnell, „sondern mit Spielsachen! Dein Zimmer wirkt genauso eng wie die anderen.“

„Ist es aber gar nicht!“ wird dem Engel widersprochen. „Du solltest es mal aufgeräumt sehen. Dann sähe es hier ganz anders aus, groß und hell und…“ Ellie hält mitten im Satz inne, weil ihr plötzlich auffällt, dass sie gerade wie ihre Mutter gesprochen hat. Mit einem Seufzer lässt sie sich auf ihr Bett fallen. „Morgen räume ich auf, versprochen!“

„Wenn du dann noch ein bisschen deinen Eltern helfen würdest, also insgesamt nicht ganz so faul wärest, kommst du vielleicht auch auf die Liste.“

Jetzt versteht Ellie. „Willst du mir damit sagen, der Weihnachtsmann mag wirklich keine faulen Kinder?“

Manuel nickt, schiebt ein paar Kuscheltiere zu Seite und setzt sich neben das Kind auf das zerwühlte Bett. „Hast du denn noch nie was von dem Goldenen Buch gehört? Ich meine, alle Kinder sollten das doch wissen!“ Manuel ist einigermaßen erstaunt.

„Klar kenne ich die alte Leier von dem Buch.“ bringt Ellie mit gelangweilter Stimme hervor.

„Wenn du nicht artig bist,“ ahmt Ellie den Tonfall ihrer Mutter nach, „dann steht das alles im großen Goldenen Buch des Weihnachtsmannes. An Weihnachten schaut er rein und nur die lieben Kinder bekommen ihre Geschenke.“

„Ja, genau so ist es!“ freut sich der Engel. Das das Kind neben ihm ist doch nicht ganz so ahnungslos, wie er eben noch dachte. „Aber warum hast du dich denn so selten dran gehalten?“

„Ob mein Zimmer aufgeräumt war oder nicht, die Geschenke waren trotzdem immer da.“

„Weil deine Eltern Jahr für Jahr für ein Weihnachten mit vielen Geschenken gesorgt haben.“ stellt der Engel sachlich fest.

„Erst dachte ich, der Weihnachtsmann nimmt es doch nicht so genau.“ erinnert sich Ellie. „Später habe ich natürlich nicht mehr an den ganzen Zauber geglaubt.“

„Das war doch sicher kein schöner Gedanke für dich, eine Welt ohne Weihnachtsmann?“ meint Manuel mitfühlend.

„Na ja, ich hab’s verkraftet!“ Ellies Ironie ist nicht zu überhören, dann wird sie nachdenklicher.

 „Aber als ich noch an den Weihnachtsmann geglaubt habe,“ überlegt das Mädchen,“ da dachte ich immer, dass der ein ganz, ganz Lieber sein muss. Und dass er es nicht so verbissen sieht mit dem Artigsein.“

Der Engel atmet tief durch. „Ist er auch, ein Lieber meine ich. Aber irgendwann wurden die Wunschzettel so viele und auch noch so lang. Er hat es einfach mit seinen Wichteln da oben am Nordpol nicht mehr geschafft.“

„Und da hat er beschlossen,“ vermutet Ellie, „nur noch die nicht ganz so faulen Kinder zu bescheren. Ich verstehe. Sicher war er froh, dass unsere Eltern das dann übernommen haben.“

„Das kannste glauben! Der Gedanke, irgendein Kind auf der Erde bekommt kein Geschenk, macht ihn unglaublich traurig.“

Ellie überlegt: „Was ist denn dann mit den ganz faulen Kindern in armen Familien?“

Manuel grinst und erklärt: „Da drückt unser Weihnachtsmann schon mal ein Auge zu. Er ist wirklich ein Lieber.“

„Da bin ich aber froh, mir ist es nämlich gar nicht egal, ob andere Kinder auch was bekommen. So bin ich gar nicht.“ wird dem Engel versichert. „Wirklich nicht!“

Manuel legt einen Arm um Ellies Schulter und versucht sie zu beruhigen: „Das glaube ich dir ja. Vorhin war ich nur so verzweifelt. Aber wo du mir doch helfen willst….“

„Aber sicher helfe ich Dir! Warte mal, was könnte ich entbehren?“ Ellies Augen schweifen durch ihr Zimmer, auf der Suche nach einem Geschenk für das fremde Kind. Sie will auf jeden Fall großzügig sein, aber eigentlich kann sie auf gar nichts einfach so verzichten.

„Was sind das denn alles für Geräte neben deinem Fernseher?“ will der Engel wissen.

„Ganz oben das ist mein Gettobluster, mit Kassettendeck, CD-Player und Radio. Der geht auf keinen Fall!“ klärt ihn Ellie auf. „Da drunter steht der Receiver für Satelliten-Empfang, der geht auch nicht, dann hätte ich kein Fernsehen mehr. Dann kommen ein DVD- und ein CD-Player, und unten steht der Videorecorder. Den brauche ich nicht mehr so oft, seit ich DVDs kucken kann.“

„Aha, …“ so ganz genau versteht Manu nicht, was ihm da gezeigt wurde.

Ellie kann ihm das ansehen und klärt ihn auf: „Mit dem einen Gerät schaust du DVDs mit dem anderen Videos. Das Ergebnis ist aber das Gleiche, du siehst dir auf dem Fernseher einen Film an. Ich hab’s, du nimmst den Videorecorder und die Videos gleich dazu. Aufnehmen kann ich zur Not auch auf Mamas Teil unten im Wohnzimmer.“ Ellie ist froh, dass sie eine Lösung gefunden hat.

„Geht nicht!“ enttäuscht sie der Engel. „Wenn die Familie dort keinen Fernseher besitzt, was soll Ngetha dann mit Videos anfangen?

„Oh, keinen Fernseher, wie traurig.“ Das Mädchen schaut auf ihr Gerät und stellt sich vor…. ‚Ausgeschlossen!’

Manuel kann ihr den Gedanken vom Gesicht ablesen und kann Ellie schnell beruhigen: „Mach dir keinen Kopf, diese Riesenkiste könnte ich gar nicht alleine durch die Lüfte tragen. Ich bin zwar ein Engel, heiße aber nicht Superman.“

Vor Erleichterung fällt dem Kind nun die Entscheidung leicht: „Du nimmst den CD-Player, und ein paar CDs kann ich auch entbehren. Ich hab ja noch den Gettobluster.“

Der Engel ist einverstanden. Ellie steht auf und geht zum Regal, nimmt das Gerät heraus und stellt es auf den Schreibtisch. Dann sucht sie noch zwei Musik-CDs aus dem CD-Ständer und legt sie daneben.

„Bleibt noch das Problem mit der Straße.“ wird sie von ihrem neuen Freund erinnert. „Ich will ja nicht hetzen, aber ich glaube, langsam muss ich wirklich los.“

„Und ich muss ins Bett!“ Ellie gähnt und schaut auf die Uhr. Sie kann es kaum fassen, seit mehr als einer Stunde quatscht sie hier mit einem Engel.

Dieser folgt ihrem Blick und erschrickt: „Schon ein Uhr durch! Bald machen die sich oben am Nordpol Sorgen um mich. Ich hab noch `nen ziemlich langen Rückweg vor mir.“

„Okay, ich muss nur schnell in Papas Arbeitszimmer, bin gleich wieder da.“

Ellie öffnet die Tür und schleicht so leise wie möglich über den Flur. Irgendwie weiß sie, dass ihre Eltern nicht wach werden dürfen und bestimmt nicht in ihr Zimmer schauen sollten. Dann wäre der ganze Zauber vorbei und ihr Freund stünde immer noch ohne Wegbeschreibung und Geschenk da, vermutet sie.

Im Büro angelangt, öffnet sie die zweite Schublade vom Schreibtisch ihres Vaters. Da liegt auch schon der Stadtplan. ‚Ein Glück, dass Papa so ein ordentlicher Mensch ist!’ denkt das Kind erleichtert. ‚Wenn das Teil bei mir läge, nicht auszudenken! Ich müsste die ganze Nacht suchen und wahrscheinlich auch noch umsonst.’ Wie viele Sachen haben sich bei ihr im Zimmer schon in Luft aufgelöst. ‚Okay, ich muss auch die Schränke aufräumen!’ sieht es seufzend ein.

Ins Kinderzimmer zurückgekehrt, falten Ellie und Manuel den Plan auseinander und vertiefen sich in das Gewirr von Häuserzeilen, Straßen und Wegen der Stadt. Ellie wundert sich gar nicht, dass sie auch ohne Licht im Zimmer alles auf dem Plan so gut erkennen kann. So sehr hat sie sich schon an das Engelsleuchten gewöhnt.

Manuel entdeckt als erster den Maifelder Weg und prägt sich seine Lage genau ein. „Gar nicht weit weg.“ murmelt er vor sich hin und schaut Ellie ins Gesicht.

„Du musst gehen.“ stellt das Kind traurig fest. „Sicher hast du keine Zeit mehr, um hinterher noch mal bei mir vorbei zu schauen.“

Der Engel schüttelt nur den Kopf. Auch ihm fällt der Abschied sichtlich schwer. Ellie hält ihm den CD-Player entgegen und kann eine Träne nicht unterdrücken. Heiß kullert sie ihr über die Wange.

Manu wischt sie mit seinem Ärmel weg und versucht seine Freundin zu trösten: „Wer weiß, vielleicht stehst du nächstes Jahr auf der Liste und ich mach dieselbe Tour?“

„Würdest du mich dann wecken?“

„Ich weiß nicht, es ist eigentlich nicht erlaubt.“ Bedauernd zuckt der Engel mit den Flügeln.

„Du musst mich nicht wecken, ich würde niemals einschlafen, wenn ich wüsste, dass du vorbei kommst.“

„Aber denk dran, von alleine kommst du nicht auf die Weihnachtsliste!“ erinnert sie Manuel und geht zur Balkontür. Von dort schaut er sich noch mal um: „Tschüß, kleines Fräulein und ich will da oben bloß nichts Schlechtes von dir hören!“

„Tschüß Manu!“ flüstert Ellie.

Der Engel tritt auf den Balkon hinaus und breitet seine Flügel weit auseinander. Da fällt dem Mädchen doch noch eine Frage ein. Während sie ihm „Warte noch!“ zuruft, rennt sie eilig hinter ihm her und bekommt ihn gerade noch am rechten Flügel zu fassen.

„Aua! Das hat wehgetan!“ jammert Manuel beim landen.

„Entschuldige,“ sagt Ellie, „aber ich hab da doch noch eine Frage.“

„Solange es nicht um ein himmlisches Geheimnis geht, schieß los!“

„Also…,“ setzt Ellie an. Aber sie weiß nicht genau, wie sie ihre Frage formulieren soll.

„Um was geht’s denn? Du weißt doch, ich muss los. Und dir ist es bestimm viel zu kalt hier draußen.“ Manuel grinst. „Du wirst dir noch deinen Menschenpopo abfrieren.“

„Darum geht es ja gerade! Warum ist mir so warm neben dir und warum fühle ich mich so verda… nein so unbeschreiblich wohl und glücklich in deiner Nähe?“

„Ach, das ist einfach. Die Wärme kommt von mir, ich bin eben ein Engel.“ erklärt ihr Manuel. „Das Glücksgefühl und das Wohlsein stecken in dir selbst. Mein Beitrag dabei ist nur, dass meine Anwesenheit dich von der Unzufriedenheit und von der Angst abgelenkt hat.“

„Wie meinst du das?“ Ellie ist nicht ganz klar, was ihr der Engel damit sagen will. ‚Wie kann das schöne Gefühl von ihr selber kommen?’

Und weil Manu eben ein Engel ist, kann dieser ihren Gedanken hören. „Du bist soviel mit irgendwelchen Wünschen beschäftigt, machst dir ständig Gedanken darüber, was dir alles fehlt und was dir schlechtes zustößt. Da merkst du gar nicht, dass du tief in dir drin ein ganz glückliches Mädchen bist.“

„Aber mir passiert doch auch dauernd irgendwas Blödes.“ widerspricht ihm Ellie.

„Na und?“ meint Manuel. „Wem denn nicht? Selbst mir passiert so was! Schau mich an! Ich wohne im Himmel und nicht bloß in einem Haus mit einem Kinderzimmer.“

Ellie muss lachen.

„Dir passiert so viel Schönes, merkst du das denn gar nicht?“ Manuel gibt Ellie einen Kuss auf die Wange und verabschiedet sich. „Ich muss wirklich die Düse machen. Ich vergesse dich nicht! Versprochen.“ Er erhebt sich majestätisch in den Himmel. Nur der CD-Player stört ein bisschen den Gesamteindruck.

Ellie schaut ihm nach und winkt. War das ein Erlebnis! Der leuchtende Punkt am Himmel wird immer kleiner und sie merkt, dass die Kälte langsam in ihren Körper kriecht. ‚Wenn ich nicht gleich rein gehe, frieren meine Füße auf den Fliesen fest, und ich muss ins Bett. So müde war ich lange nicht.’

Kaum unter ihrer Bettdecke liegend, ist das Kind eingeschlafen. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich ein glückliches Lächeln.

 

„Ellie! Ellie! Was ist los, willst du gar nicht aufwachen?“ Ellies Papa steht an ihrem Bett und rüttelt sie sachte am Arm. „Es ist Heiligabend, willste das verschlafen?“

Müde öffnet seine Tochter die Augen und gähnt herzhaft. Ihr Papa Mark beugt sich zu ihr runter und nimmt sie in den Arm. „Na Kleines, bist du schon aufgeregt?“

„Und wie!“ antwortet Ellie. „Ich konnte gar nicht einschlafen gestern Abend. Aber das habe ich ja schon…“ sie stockt. ‚Was war das letzte Nacht? Ein Traum?’

„Was hast du schon?“ fragt der Vater.

„Ach nichts, gar nichts. Ich bin nur noch so müde.“ Ellie schaut zum Regal hinüber. Gettobluster, Receiver, DVD-Player, Videorecorder. Kein CD-Player.

„Papa, wo ist denn mein CD-Player? Habt ihr den gebraucht?“

„Ellie, du hattest doch nie einen, und du brauchst auch keinen. Da ist doch ein CD-Player in diesem hübschen Gerät drin.“ Er zeigt auf den Gettobluster. „Hast wohl geträumt, mein Schatz?“

‚Muss wohl so sein.’ denkt Ellie enttäuscht. „Ich hab Hunger, wann gibt’s denn Frühstück?“

„Alles schon fertig. Wenn du im Bad warst und angezogen bist, komm runter!“ Ellies Papa steht auf. „Beeil dich Mäuschen. Wir warten unten auf dich.“

Allein in ihrem Zimmer schaut Ellie traurig an die Decke. ‚Aber das war doch alles so wirklich, und ich kann mich auch an alles erinnern. Die Flügel, das Leuchten, der Stadtplan… Moment mal, der muss doch hier liegen!’ Sie sucht den Fußboden ab. Kein Stadtplan. Schnell steht sie auf und rennt ins Arbeitzimmer, zweite Schublade, da liegt er.

Es ist Abend, noch eine Stunde bis zur Bescherung. Ellie liegt auf ihrem Bett und betrachtet die Galerie ihrer Kuscheltiere. Heute hat sie aufgeräumt und die süßen Kleinen stehen ordentlich aufgereiht neben ihr auf dem Bett. Zufrieden schaut sie sich im Kinderzimmer um. Der Fußboden wie leergefegt, der Schreibtisch blitzblank geputzt und nicht mehr voll gestellt. Sogar in die Schränke kann sie schauen, alles an seinem Platz.

‚Mann, war das eine Arbeit. So weit lasse ich es nicht mehr kommen!’ beschließt das Kind. ‚Und wenn Mama so leicht glücklich zu machen ist…. na ja leicht war es nicht.’

Das Geschenk für ihren Papa hat sie schon in Geschenkpapier verpackt und eine große Schleife darum gebunden. Mamas Mandala macht ihr noch Sorgen. Die drei Scherben liegen auf ihrem Nachttischchen und der Kleber liegt schon daneben.

‚Ich muss nur noch das Fensterbild kleben.’ denkt das Mädchen. ‚Hoffentlich kriege ich das hin!’

Auf einmal wird Ellie so müde und schließt die Augen. Sie denkt an den schönen Traum, leider muss sie sich damit abfinden, dass das Abenteuer mit Manuel nicht wirklich passiert ist. Da war kein Engel auf ihrem Balkon. Sie hatte nie einen CD-Player und soweit sie sich erinnern kann, hat sie heute Mittag auch alle CDs in ihr Regal geräumt. Es fehlte keine einzige. Oder doch? In Gedanken geht sie noch mal alle ihre Titel durch, die sie je besessen hat: ‚Britney Spears, Shakira, Anime Hits eins und zwei…’ Ellie schläft ein.

Nach einer ganzen Weile wird das Mädchen durch ein leises Türklappen geweckt. Schnell öffnet es die Augen. Aber das Zimmer ist leer. Ellie schaut zur Digitalanzeige und erschrickt. ‚Schon so spät! Gleich ist Bescherung und ich muss doch noch das Mandala reparieren!’ Sie schaut auf den Nachtschrank.

Doch was ist das? Hat sie es doch schon geklebt? Vorsichtig nimmt sie die Glasscheibe in die Hand, aber sie kann keine Klebestellen entdecken. ‚MANUEL!’ schießt es ihr durch den Kopf.

Da hört Ellie von unten das Glöckchen klingeln. Es geht los! Endlich ist Weihnachten.

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